Liesel Zorn

„So etwas darf nie wieder vorkommen" (WK 31.08.2001)

Mit 94 Jahren ist Liesel Zorn die letzte Zeitzeugin der Sozialistischen Arbeiterjugend / Elf Monate Gestapo-Haft

Gerne erzählt die heute 94-jährige Liesel Zorn von ihrer Zeit in der Sozialistischen Arbeiterjugend. Foto: RMB/Windolf

Von KURIER-Mitarbeiterin Aglaja Beyes-Corleis
In einem kleinen Koffer sammelt sie in ihrer Klarenthaler Wohnung ihre Ehrenurkunden für langjährige Mitgliedschaft in der SPD. Mit 79 Jahren Mitgliedschaft dürfte die heute 94-Jährige alle Genossen überrunden. Ebenfalls aufgehoben unter Denkwürdigem aus einem Jahrhundert findet


KLARENTHAL

 

sich die Anklageschrift gegen Liesel Zorn sowie acht weitere Wiesbadener Frauen und sechs Männer, die mit ihr 1941 von der Gestapo verhaftet wurden.
Vorgeworfen wurden den 15 jungen Leuten die Mitgliedschaft in der Sozialistischen Arbeiter-jungend (SAJ), die 1933 von den National-sozialisten verboten wurde. Man traf sich trotz Verbots, doch nicht um Widerstand zu leisten, sondern zum geselligen Beisammensein, zu Wanderungen und Bootsfahrten auf dem Rhein. Der Gestapo genügte das und ordnete dafür eine elfmonatige Inhaftierung von Liesel Zorn, ihrem Bruder Karl und aller anderen an.

Politischen Widerstand hatte von der Gruppe nur Georg Buch geleistet, der dafür im KZ Sachsenhausen eingekerkert wurde. „Wir anderen jungen Mitglieder wussten von seinen Flugblattaktionen gar nichts", versichert Liesel Zorn und wundert sich selbst, wie unpolitisch sie damals war.
Heute ist die 94-Jährige das letzte noch lebende Mitglied der damaligen Gruppe. Was sie damals erlebte, erzählt sie in dem Dokumentarfilm „Rechtlos im eigenen Land". Als Zeitzeugin trat sie zuletzt bei der Vorstellung des Filmes bei den Klarenthaler Kulturtagen Ende Mai auf, diskutierte mit Schülern des Carl-von-Ossietzky Gymnasiums und erklärte aus vollem Herzen:

 

 „So etwas darf nie wieder vorkommen."


Liesel Zorn kam am 10. Mai 1907 in Wiesbaden zur Weit. Ihre Eltern arbeiteten als Masseure, mit der Arbeiterbewegung habe man in ihrem Elternhaus nichts am Hut gehabt. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs mussten auch die vier Kinder morgens um fünf aufstehen und Zeitungen austragen. Krieg und Währungsreform ließen den Menschen kein Geld für Massagen.
Wenn Liesel Zorn an ihre Schulzeit denkt, erinnert sie sich an ihre fast eineinhalbjährige Lungenerkrankung, an ständige Lehrerwechsel, an die Umwandlung ihrer Schule in der Lehrstraße in ein Lazarett und an den Rückstand im Rechnen. Eigentlich sei ihre Lehrerin dafür eingetreten, dass sie weiterführende Schulen besuche. Doch das konnte sich die sechsköpfige Familie angesichts des hohen Schulgeldes nicht leisten. Sie machte mit 14 Jahren eine Schneiderlehre und lernte durch ihren Bruder Karl 1922 die Arbeiterjungend kennen, die sich später in Sozialistische Arbeiterjungend umbenennen sollte.
„Das war die schönste Zeit meines Lebens", versichert sie heute. Fast täglich ging die da mals 15-Jährige zu den Jugendtreffs. Man sang, tanzte, lernte ein wenig Esperanto und hörte Vorträge. An letzteres erinnert sich Zorn weniger, an Geselligkeit um so besser. 1937 kam ihre Tochter Renate-Christa zur Welt. „Du hast jetzt ein Kind. Treffe dich nicht mehr mit deinen Freunden", habe ihre Mutter sie gewarnt. Gemeinsame Spaziergänge könnten doch nichts Schlimmes sein, habe sie geglaubt. Als Liesel Zorn nach elf Monaten aus der Gestapo-Haft entlassen wurde, habe ihre kleine Tochter sie zuerst nicht mehr erkannt. Sie bekam ein weiteres Kind und wurde vorsichtiger.
Nach 1945 gehörte Liesel Zorn zu den ersten, die in Wiesbaden die SPD wieder aufbauten. Sie war zweite Vorsitzende der SPD-Frauengruppe, half ehrenamtlich im Parteibüro und wirkte als Schöffe im Amts- und im Landgericht.
Als Georg Buch Mitte der 70er Jahre den „Freundeskreis ehemalige sozialistische Arbeiterjugend" aufbaute, war sie von Anfang an dabei. Bis zu einem Unfall 1999 besuchte sie regelmäßig die wöchentlichen Treffen, auf denen man sich mit der Tages- und Weltpolitik beschäftigt und manchmal auch die alten Lieder singt. Die jetzigen Mitglieder des Freundeskreises gehörten früher teilweise der SAJ-Kindergruppe an. Wie Liesel Zorn pflegen sie eine Erinnerung, von der alle hoffen, dass sie nie vergeht.

Liesel Zorn

Liesel Zorn - wegen ihrer  fröhlichen und pragmatischen Art ein Vorbild für alle - ist am 19. Oktober 2008 nach einem langen und erfülltem Leben verstorben. Unsere hoch verehrte und allseits beliebte Liesel wurde am 10. Mai 1907 in Wiesbaden geboren.                                                                               1922 trat sie der SAJ (Sozialistische Arbeiterjugend) bei, drei Jahre später wurde sie Mitglied der SPD. Liesel Zorn gehörte der SPD (SAJ zählt mit) mehr als 86 Jahre an, länger als viele Menschen alt werden.
Während des Nationalsozialismus in Deutschland gehörte sie einer Widerstands-gruppe um Georg Buch (später Oberbürgermeister von Wiesbaden) an, die im Wiesbadener Untergrund agierte. Nach jahrelangen Verfolgungen durch die Nazis wurde Liesel Zorn im Februar 1941 verhaftet. Sie wurde des Hochverrats angeklagt und kam für fast ein Jahr ins Gefängnis. Vor ein paar Jahren entstand der Dokumentarfilm „Rechtlos im eigenen Land", der ihre Aktivitäten in der Zeit des Nationalsozialismus beleuchtet. Bereits 1946 wurde sie wieder aktiv, arbeitete bei der Arbeiterwohlfahrt, im Seniorenbeirat und im Büro des SPD-Unterbezirks Wiesbaden mit. In der SAJ und der Frauengruppe in der SPD war sie lange Jahre in verschiedenen Funktionen tätig. Bis zum Schluss nahm Liesel Zorn aktiv am Ortsvereinsleben oft und gern teil.                                                                 Am 10. Mai 2007 konnte sie in ihrer Heimatstadt im großen Freundeskreis ihren 100. Geburtstag begehen. Allen Zeitgenossen Liesel Zorns ist eine engagierte und vorbildliche Zeitzeugin des 20. Jahrhunderts für immer verloren gegangen. Uns, und allen die Liesel kannten, ist eine treue und liebenswerte Freundin an unserer Seite verloren gegangen. Danke Liesel, für alles erduldete und alles geleistete.                               Du bleibst uns unvergessen.