Ein alter Grabstein und die Geschichte von Klarenthal

Der Aufsatz ist aus der "Festschrift zum 25jährigen Jubiläum der Katholischen Pfarrei St. Klara" entnommen (1992)

Grabstein

Die offizielle Übernahme eines Grabsteines aus dem ehemaligen Kloster Klarenthal gibt Anlaß*), einen Blick zurück in die Vergangenheit zu werfen, in die Geschichte unseres Stadtteils und in die Geschichte dieser Stadt, in die Geschichte unserer Heimat.

 

Geschichte ist ja nicht etwas Abstraktes, Geschichte besteht nicht aus dem Lernen von Jahreszahlen,  vom Gedenken und von Namen großer Männer, so wie wir das oft im Schulunterricht erfahren haben. Geschichte ist viel konkreter, sie wird faßbar, begreifbar, wenn wir uns in unserer näheren Umgebung umsehen. Überall stoßen wir auf Reste der Vergangenheit, die es uns erleichtern, den Weg zurück in ferne Zeiten zu nehmen, die die Grundlage der Gegenwart sind.

 

Wenn wir uns unserem Stadtteil Klarenthal zuwenden, so könnte man auf den Gedanken kommen, daß wir in Klarenthal eigentlich nichts mit Geschichte zu tun haben; unter dem Motto: Klarenthal ist eine moderne Großsiedlung, die vor 20 Jahren auf ehemaligem Ackergelände herausgestampft wurde, da kann ja keine Geschichte vorhanden sein.

 

Wer so spricht, hat nicht verstanden, was es mit der Geschichte auf sich hat. Zwar besteht das heutige Klarenthal als Siedlung erst knapp 20 Jahre. Dabei ist daran zu erinnern:

Vor 25 Jahren, am 11.  September 1964, wurde der 1. Spatenstich für unsere Siedlung durch den damaligen Oberbürgermeister Georg Buch ausgeführt. Doch in unserer schnellebigen Zeit können schon zwei Jahrzehnte Geschichte beinhalten — und gerade die letzten Wochen haben ja gezeigt, wie Geschichte, wie deutsche Geschichte, stattfindet.

 

Schon der Name dieses Stadtbezirks zeigt, daß wir Klarenthaler doch nicht so ganz ohne Tradition im Kreise der übrigen Stadtteile dastehen. Der Name Klarenthal weist auf das Kloster gleichen Namens hin, und obwohl äußerlich heute nicht mehr viel da ist, handelte es sich bei dem Kloster um eine ganz eminente Einrichtung, die in zweierlei Hinsicht von herausragender Bedeutung ist, und wir können stolz sein auf diese Einrichtung.

 

1. Diese Aspekte sind wichtig im Hinblick auf die Stadtgeschichte. Kloster Klarenthal war im Mittelalter  das einzige Kloster der Stadt Wiesbaden und hatte damit für die Wiesbadener Stadtgeschichte eine herausragende, nicht zu unterschätzende Bedeutung.

 

2. Der 2. Aspekt betrifft die Landesgeschichte.

— Kloster Klarenthal war die Gründung des einzigen Königs aus dem Hause Nassau.

— Kloster Klarenthal sollte das Erbbegräbnis des nassauischen Hauses werden. Dort befand sich die Grabstätte einer deutschen Königin, und es waren die Grabstätten der nassauischen Grafen.

 

Diese Bedeutung darf nicht vergessen werden und stellt Anknüpfungspunkte dar, aus denen unser Stadtteil seine Tradition herleiten kann und muß. Das ist eine Aufgabe aller Vereine und Organisationen und muß immer wieder herausgestellt werden. Solche Traditionsstränge haben ja auch die Kirchengemeinden  gebildet:

 

— die evangelische — Kapelle in Alt-Klarenthal

— die katholische, die die Hl. Klara von Assisi, deren Orden hier im Kloster gewirkt hat, als Patronin der Kirche gewählt hat.  

 

Solche Beziehungen müssen immer wieder ins Bewußtsein gerückt werden; sie müssen auch immer wieder begreifbar gemacht werden, und dazu soll auch der Teil jenes Grabsteines dienen, der aus Kloster Klarenthal stammt.

Wenden wir uns zunächst dem Grabstein selbst zu — Was sagt er uns?

Auf diesem Grabstein fällt zunächst die Darstellung eines großen geschlossenen Ritterhelms auf, der mit einem Federbusch geschmückt ist.

Daß darunter ein Gesicht dargestellt ist, können wir im Hinblick auf die Proportionen dieser Grabplatte vermuten. Vielleicht hat sich unter dem Helm noch ein Wappen befunden, aus dem man auf die Familie schließen konnte, aus der der Tote stammte. Auch wenn dieser Teil verschollen ist, so können wir doch nach der Person des Ritters forschen. Um die Darstellung läuft eine Inschrift. Auch sie ist leider nur bruchstückhaft vorhanden.

Weiter sind die Worte »pace Amen« zu erkennen. Oben »Anno Domini« und eine Jahreszahl M = 1000, 3xCCC = 300, 3xXXX = 30 und 4xStriche - also 1334.

Während die noch vorhandenen Worte, die »Ruhe in Frieden« und »im Jahre des Herrn« bedeuten, uns eigentlich nicht weiterhelfen, weil kein Name vorhanden ist, so ist das doch schon mit der Jahreszahl 1334 etwas anderes.

Sie gibt einen klaren Hinweis auf den Toten. Sie deckt sich mit dem Todesjahr des Ritters Heinrich von Lindau, der im Chor der Klarenthaler Kirche beigesetzt worden ist. Die Nachricht hierüber verdanken wir den Aufzeichnungen eines Mainzer Domherrn namens Helwich, der 1614 die Inschriften der Grabdenkmäler des Klosters Klarenthal aufgenommen und gesammelt hatte.

Und in seiner noch vorhandenen Schrift lesen wir: Inschrift des Grabmals in der Mitte des Chores: Anno Domini 1334 obiit Henricus unites de Lindauwe XIII (13) Kalendis Octobus«.

So kann es keinem Zweifel unterliegen, daß wir es hier mit der Grabplatte des Ritters Heinrich von Lindau zu tun haben.

Wer waren die Ritter von Lindau und können wir noch etwas Genaueres über diesen Ritter Heinrich erfahren?

Die Geschichte der Ritter von Lindau führt uns 700 Jahre zurück in der Geschichte unserer Heimat. In der Mitte des 13. Jahrhunderts zweigte von dem edelfreien Geschlecht der Adligen von Wiesbaden eine Linie ab, die Ritter von Lindau.

Ihr Stammvater war der seit 1248 bezeugte und um 1280 verstorbene Ritter Heinrich Franko von Wiesbaden.

Der Name »Lindau« geht auf den Lindenbach zurück, der noch heute durch die Bierstädter Gemarkung fließt. Dort errichteten sie, die neue Linie deren von Wiesbaden, einen Hof, nämlich den Lindauer Hof. Dieser ist noch heute vorhanden, der Lindenthaler Hof.

Auch in Wiesbaden besaßen sie einen Hof, der zwischen Hochstättenstraße und Kirchgasse lag.

Im 14. Jahrhundert erreichten die Ritter von Lindau eine verhältnismäßig unabhängige Stellung zwischen den damaligen Territorialmächten Nassau, Kurmainz und Katzenellenbogen.

Hierfür entscheidend war, daß sie 1263 die Rechte des Gerichtes zu Niederwalluf am Westrand des damaligen Königssondergaus ankaufen und ausbauen konnten, das später als das Lindauer Gericht bezeichnet wurde. Das Gericht war zuständig für das Gebiet von Walluf bis nach Martinsthal und umfaßte noch ein kleineres Dorf Rode, das heute verschwunden ist.

Die Anwohner mußten dafür Abgaben leisten. Die Gerichtsbarkeit soll sich bei der Bevölkerung großer Beliebtheit erfreut haben, womit sie so »bürgernah« war. Aufgrund dieser Stellung konnten sie reichen Lehnsbesitz in Wiesbaden, im Rheingau und westlichen Taunus erwerben. So hatten sie u. a. auch den Hof Armada bei Frauenstein in Besitz, nachdem sie den Stammsitz aufgegeben hatten.

Enge Beziehungen hatten die Ritter von Lindau zum Kloster Klarenthal, das ja seine Gründung in den Tagen erfuhr, als die von Lindau ihren eigenen Aufstieg begannen.

Der Dekalog des Klosters, ein Verzeichnis der Wohltäter, deren man im Gottesdienst gedachte, weist 18 Angehörige des Geschlechtes als Wohltäter des Klosters aus. 6 Töchter waren als Nonnen in das Kloster eingetreten. Eine davon wurde sogar Äbtissin, es war jene Äbtissin Paze von Lindau, gestorben 1422, mit deren Amtsantritt eine positive Periode m der Klostergeschichte begonnen hatte.

Das Kloster war damals sehr angesehen bei den adligen Familien des Landes, die dem Kloster viele Wohltaten erwiesen. Damals kam es auch zu einer außerordentlichen Stiftung der Adligen von Lindau, die 1358 eine Grabkapelle für ihr Geschlecht an die Klosterkirche anbauen ließen.

Auch unser Heinrich von Lindau tat sich als Wohltäter hervor, indem er dem Kloster eine bedeutende Schenkung für das ewige Licht vor dem Hauptaltar vermachte. So kam es, daß er als Mann nach seinem Tode am 18. September 1334 in der Klostergemeinschaft der Nonnen aufgenommen wurde und in der Kirche seine letzte Ruhe fand.

Von ihm selbst wissen wir nur, daß er im Rheingau eine herausragende Stellung einnahm, er übte nämlich das Amt des »Vicedomus« oder Vizedomus aus. Das bedeutete, daß er der weltliche Statthalter des Mainzer Erzbischofs im Rheingau war, also nach ihm das höchste Amt ausübte.

Wie waren die Zeiten?

Es waren bewegte Zeiten damals in der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts. Die Aufbaujahre des Klosters waren ja mit großen Schwierigkeiten verbunden, nachdem nach dem Tode des Gründers der königliche Schutz fehlte.

Die erste Weihe der Kirche 1303/1304 konnte erst nach langer Verzögerung durchgeführt werden. Und während der Belagerung von Wiesbaden 1318 zerstörten und plünderten die Truppen König Ludwigs von Bayern das Kloster vollständig, so daß im Jahr 1321 die Kirche erneut geweiht  werden mußte.

Es war eine Zeit, in der es in der Bevölkerung ums nackte Überleben ging gegen Kälte und Dürre, Krankheiten und Kriege, Hunger und Entbehrungen.

Die Mißernten der Jahre 1313 — 1317 führten zu schweren Hungersnöten. Dadurch wurde die Bevölkerung anfällig gegenüber Krankheiten. Im verheerenden »Schwarzen Tod«, der Pestepidemie von 1347/51 erreichten die Katastrophen einen apokalyptischen Höhepunkt. Man schätzt, daß Europa durch diese Katastrophen im 14. Jahrhundert ein Drittel seiner Einwohner verlor.

Ob Ritter Heinrich bei einer solchen Epidemie den Tod fand, wir wissen es nicht.

Seit 1334 befand sich sein Grab in der Klosterkirche, noch 1614 war es vorhanden, als Helwich die Kirche aufsuchte, was die Inschrift festhielt. Die Klosterkirche und das Kloster erlitten ein schweres Schicksal. Bereits nach dem 30-jährigen Krieg war sie in einem bedenklichen Zustand.

In der Mitte des 18. Jahrhunderts war sie dann so zerfallen, daß man sie niederlegte und die Steine zur Befestigung der Lahnstraße verwandte. Die Grabplatte des Ritters Heinrich von Lindau hatte man zurückgelassen. Sie versank unter dem Schutt der Zeit.

Bei Bauarbeiten im Klosterbereich entdeckte man sie im Jahr 1987. Sie konnte damals geborgen werden. Nunmehr wird sie hier in St. Klara für die kommenden Generationen aufbewahrt zur Erinnerung an die interessante Geschichte vom Kloster Klarenthal. Diese Geschichte ist ein Teil der Geschichte dieser Stadt Wiesbaden und damit auch ein Teil unserer eigenen Vergangenheit.

 

Dr. Rolf Faber

*) Dieser Grabstein wurde in einem Gottesdienst am Sonntag, 19. November 1989, in die Kapelle des Gemeindezentrums St. Klara übernommen. Aus diesem Anlaß hielt Herr Dr. Rolf Faber den hier abgedruckten Vortrag während des Gottesdienstes.