Wiesbadener Tagblatt - Ausgabe vom 02. September 1985
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2500 Klarenthaler untersucht - Warmwasser läuft
Gestern nachmittag verkündeten Lautsprecher-Wagen die „Entwarnung/Wärmetauscher werden wieder entplombt
hed. - Aufatmen gestern in der Großsiedlung Klarenthal: Am späten Nachmittag verkündeten Lautsprecher-Wagen „Entwarnung". Nach fast zwölf Tagen scheint die Hydrazin-Verseuchung im Trinkwasser gebannt zu sein. Ohne warmes Wasser bleiben jedoch weiterhin jene rund 500 Bürger, die bisher von den 47 defekten Wärmetauschern versorgt wurden. Diese Klarenthaler haben weiterhin die Möglichkeit, im Kleinfeldchen-Bad an der Hollerbornstraße oder zwischen 16 und 20 Uhr im Gemeindebad Roonstraße kostenlos zu duschen und zu baden.• 271 Klarenthaler hatten am Wochenende diese kostenlose Bademöglichkeii genutzt, die ESWE und die Stadt zur Verfügung stellten, Mitarbeiter des Technischen Hilfswerkes organisierten diese Sonderaktion.
• „Die Unbedenklichkeit des Trinkwassers ist gewährleistet", signalisierte das städtische Gesundheitsamt im schönsten Amtsdeutsch am Nachmittag. Die Verbraucher wurden jedoch gebeten, das warme Wasser zunächst einmal über einen Zeitraum von 10 Minuten aus den Hähnen laufen zu lassen, um Rückstandsreste Standsreste, auch unbedenklicher Art, aus dem Leitungs-system zu entfernen.
Keine Sprechstunde
• Wie berichtet, sollte in dieser Woche die AIDS-Beratungsstelle im städtischen Ge-sundheitsamt ihre Arbeit aufnehmen. Leider muß die Eröffnung dieser Einrichtung zu-nächst zurückgestellt werden, da das Gesund-heitsamt alle verfügbaren Kräfte zur Zeit für die Hydrazin-Untersuchungen im Stadtteil Klarenthal eingesetzt hat. Aus dem gleichen Grunde fallen auch am kommenden Mitt-woch, 4. September, die Impfsprechstunden aus, und zwar sowohl am Nachmittag wie auch die Abendsprechstunde. Sie finden stattdes-sen am Mittwoch (11. September) statt.
• Rund 25Ö0 Bürger hatten Mitarbeiter des Gesundheitsamtes und des Instituts für Arbeitsmedizin der Universität Erlangen in den letzten Tagen auf das Krebsgift Hydrazin in Blut und den Nieren bzw. der Leber untersucht. Gestern nahmen die Teams allein rund 400 Blutproben. In zehn Fällen hatte man erhöhte Werte festgestellt. Ob diese auf den Einfluß des hochgiftigen Stoffes zurückzuführen sein werden, müssen die Erlanger Wissenschaftler klären.
• Der Hydrazin-Skandal, der in den letzten Tagen bundesweites Aufsehen erregte, wird wohl für die Landeshauptstadt auch politische Folgen haben. Dieser Aspekt wurde bisher, durch technische Diskussionen, etwas in den Hintergrund gerückt.
So hatten beispielsweise die Grünen im Rathaus personelle Konsequenzen gefordert. Und dies vor dem Hintergrund, daß der von ihnen Mitgetragene neue Wiesbadener OB Achim Exner in diesem Monat sein Amt als
Aufsichtsratsvorsitzender von ESWE antreten wird. Exner selbst ging weiter. Er forderte, falls sich dies als notwendig erweisen würde, Konsequenzen bis in die untersten Ebenen. (Über die Verstrickung einzelner städtischer Ämter in den Skandal wird noch zu berichten sein). Auf jeden Fall werden die Diskussionen der nächsten Tage interessant sein.
Ausschuß berät
• In seiner nächsten öffentlichen Sitzung am Dienstag (3. September), Beginn 17 Uhr, Zimmer 121 des Rathauses, wird sich der Umweltausschuß erneut mit dem Hydrazin und den Folgen für die Klarenthaler Bewohner befassen. Ausschußvorsitzender Wilfried Ries erwartet einen umfassenden Bericht der Stadtwerke und der städtischen Ämter über die weitere Entwicklung und die bisherigen Maßnahmen und Untersuchungsergebnisse.
Demkor als Alternative?
Produkt seit zehn Jahren auf dem Markt/Gleicher Effekt
Es gibt Produkte, die die gleiche Wirkung wie Hydrazin in einem Fernheizwerk erzeugen (Herausnahme des Sauerstoffs, Anm. d. Red.), seit Jahren auf dem Markt und gesundheitlich unbedenklich sind. Mehrmals hatte das TAGBLATT auf solche Möglichkeiten hingewiesen.Neues Beispiel: „Demkor", ein sauerstoffbindendes Mittel der Firma Erwin Korn KG aus Hamburg, das zur Abbindung von Sauerstoff vom TÜV bereits anerkannt wurde. Aber, so Firmenchef Korn gegenüber dem TAGBLATT: „Als mittelständisches Unternehmen haben wir es natürlich schwer. Hydrazin wird eben hauptsächlich vom Bayer-Konzern hergestellt."
Eine lange Liste der Unternehmen konnte die Hamburger Firma aufführen, die das Sauerstoffbindemittel bereits verwenden: neben MBB in Bremen und „Jacobs-Kaffee", sind dies die Maingas-Werke in Frankfurt, die Bundeswehr, das Landeskrankenhaus Merzig, die Strafvollzugsanstalt in Wittlich, das Staatsbauamt in Trier, die Polizeischule in Wengerohr bei Wittlich und die Schokoladen-Fabrik Hildebrand in West-Berlin. „Demkor" ist cancerogen und physiologisch sowie toxisch unbedenklich und wird bereits seit über 10 Jahren zur direkten Produktbedämpfung eingesetzt", heißt es in einer Beschreibung des Stoffes. Hellwach wurden nach dem Wiesbade-ner Hydrazin-Skandal Firmen im gesam-ten Bundesgebiet. Thyssen-Henschel und auch Henschel in Kassel entschlossen sich mittlerweile, auf Hydrazin zu verzichten, und nur noch „Demkor" zu benutzen. Hydrazinhaltige Erzeugnisse wurden beispielsweise in der Schweiz seit Jahren als krebserregend eingestuft und sind dort, im Kessel- und Heizungsbereich, voll-kommen als Korrosionsschutzmittel durch die Produkte der Hamburger Firma verdrängt worden. Hydrazin wird in der Schweiz in der „Giftklasse 1", der höchsten Gefahrenklasse für Chemikalien, eingestuft.
Das patentierte System findet vor allem in geschlossenen Heizwasser-Heizungs-anlagen und anderen Fernwärmesystemen seinen Einsatz, kann aber auch ge-schlossene Kühlwassersysteme gegen Korrosionen schützen.
Folgerung: Erst, wenn sich der Laie sachkundig macht, kann sich auch in Wiesbaden einmal etwas bewegen.
Hydrazin-freies Verfahren
Alternativ-Modell schon seit Jahren ohne Fehler/Details
Auf ein Pilotprojekt der Firma Grünbeck (Höchstadt an der Donau) in Sachen Fernwärme hatte das TAGBLATT bereits hingewiesen. Diese Firma wäre durchaus auch in der Lage, das ESWE-Heizwerk Klarenthal oder andere mit Hydrazin arbeitende Heizwerke in der Stadt zu sanieren. Abgesehen von ihrem Pilot-Projekt, einem Fernheizwerk in Heidenheim-Mittelrain, machte sich die Firma beispielsweise einen Namen durch die Renovierung der Heizanlage eines Mainzer Altenwohnheimes. „Durch den Umbau haben wir dem Heim 80 000 Mark jährlich an Entrostungs-Kosten gespart", erklärte Gerd Steimel vom Technischen Kundendienst der Firma. Wie bereits berichtet, war eine Grundvoraussetzung für die Auftragsvergabe die Herausnahme des Hydrazins (oder Levoxins, wie die eigentliche Produktbezeichnung ist) aus dem eigentlichen Fernwärme-System. Voraussetzung zusätzlich: Korrosionen an sämtlichen Werkstoffen, besonders auch an jenen aus Kupferlegie-rungen, müssen zuverlässig verhindert werden können (Kupferrohre sind immer noch in Klarenthal als Alternative im Gespräch, Anm. d. Red.).Eine neue Konzeption der Füll- und Ergänzungswasseraufbereitung, aber auch der Umlaufwasserverbesserung, arbeitete das süddeutsche Unter-nehmen, basierend auf durchaus bekannten technischen und physikalischen Details, aus. Angesichts des international veröffentlichten Modells, mutet diese Alternative zu Klarenthal wirklich simpel an. Dem eigentlichen Heizsystem, deutlich beschrieben in der Fachzeitschrift „Fernwärme international 3/85" wird zunächst eine mechanische Filtrationsanlage mit Aktivkohle vorgeschaltet. Danach wird das Heizwasser über einen Schwebebett-Ionenaustauscher, wie ihn auch der CDU-Umweltsprecher Heinz Barth vorgeschlagen hatte, chemisch entsalzt. Letzter Schritt des Heizwasser-Systems: eine physikalische Entgasung durch einen Vakuumentgaser. Mit Hilfe einer Förderpumpe gelangt dann erst das Wasser ins eigentliche Heizsystem. Wäre dies nicht, trotz notwendiger Investitionen, eine Alternative? Anruf genügt: (0 90 74) 4 41. „Hydrazin ist zwar ein gutes Produkt, aber eigentlich Technik der 50er Jahre", diese Feststellung des TAGBLATT wurde auch von dieser Seite erneut bestätigt.
Staatsanwaltschaft: Ermittlungsverfahren eingeleitet!
Begründung: Verdacht auf fahrlässige Körperverletzung und gemeingefährliche Vergiftung / Auch das LKA ist befaßt
Iz. - Die Vorgänge um den Hydrazin-Skandal in der Wiesbadener Großsiedlung Klarenthal, die inzwischen bundesweite Beachtung finden, werden mit Sicherheit noch lange nicht zu den Akten gelegt werden können. Vielmehr ist damit zu rechnen, daß die Dinge strafrechtliche Konsequenzen haben könnten und unter Umständen auch die Gerichte beschäftigen werden.• Eine solche Möglichkeit gilt jetzt nicht mehr als ausgeschlossen, nachdem gestern abend überraschend bestätigt wurde, was Tage zuvor bereits vermutet worden war: Die Wiesbadener Staatsanwaltschaft ist im Hydrazin-Fall tätig geworden. Sie hat, wie der Leitende Oberstaatsanalt Roth dem TAGBLATT gestern abend auf Anfrage bestätigte, ein Ermittlungsverfahren in die Wege geleitet. Unter anderem wegen des Verdachts auf fahrlässige Körperverletzung und gemeingefährliche Vergiftung, wie Roth sagte.
• Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, die bereits seit einigen Tage laufen, richten sich „gegen einige bei ESWE an führender Stelle tätigen Leute", heißt es dazu. Namen in diesem Zusammenhang wurden nicht genannt.
Leitender Oberstaatsanwalt Roth: „Die Ermittlungen werden wie immer und wie es selbstverständliche Pflicht ist, mit aller Sorgfalt und Behutsamkeit geführt", wobei sich zur Zeit nicht absehen lasse, mit welchen Ergebnissen die staatsanwaltschaftlichen Recherchen endeten. Roth: „Das bleibt ganz einfach abzuwarten".
• Am Rande wurde gestern abend bekannt, daß offensichtlich auch das Hessische Landeskriminalamt in die Ermittlungen um den Klarenthaler Hydrazin-Fall eingeschaltet worden ist. Nicht bestätigten Meldungen zufolge sollen die Ermittlungsbehörden bei ESWE einschlägiges Akten-Beweismaterial sichergestellt haben. Nähere Einzelheiten zu den Vorgänen, die gestern abend mancherlei Spekulationen Raum gaben, werden für den heutigen Dienstag erwartet.