Nachrichten Wiesbaden 22.06.2016
Zeitzeugin Trude Simonsohn erzählt Jugendlichen in der Ossietzky-Schule von ihrem Martyrium
Trude Simonsohn (Mitte) mit Schülern der Carl-von-Ossietzky-Schule
Foto:wita/Uwe Stotz
Von Joachim Atzbach
WIESBADEN - „Wenn man es nicht mehr aushält, wird die Seele ohnmächtig.“
Trude Simonsohn sitzt an einem Tisch im Atrium des Carl-von-Ossietzky-Oberstufengymnasiums. Die 95-jährige Dame erzählt die Geschichte ihres Martyriums mit ruhiger Stimme. Ab und an unterstreichen ihre sonst durchgängig auf der Tischplatte liegenden Hände mit sparsamen Gesten das Gesagte. Ihre Beine sind die ganze Zeit reglos übereinandergeschlagen.
Blick zurück als Erklärung für die Gegenwart
Die vor ihr auf den Atriumstufen verteilt sitzenden Schüler der Leistungskurse Geschichte und Deutsch sind so etwas wie ihr Spiegelbild: Kaum einer verändert seine Sitzposition. Viele haben den Kopf konzentriert auf eine Hand gestützt. Einige Mädchen halten die Arme um die Knie geschlungen.
„Sie werden feststellen, dass das Fach Geschichte über den Blick zurück versucht zu erklären, was in der Gegenwart passiert“, hat Werner Langenstein von der Schulleitung auf die vom Aktiven Museum mit organisierte Veranstaltung eingestimmt.
Es ist der Leidensweg der in der Tschechoslowakei lebenden Juden während der nationalsozialistischen Terrorjahre, den Trude Simonsohn am Beispiel der eigenen Erlebnisse schildert. Eine Odyssee, beginnend mit dem jähen Ende einer erfolgsversprechenden Schulzeit, über eine Zeit im jüdischen Widerstand, bis ins Getto Theresienstadt, wo ihr ungeheures Leid widerfährt, wo sie aber auch ihren späteren Ehemann, den jüdischen Sozialpädagogen und Juristen Berthold Simonsohn kennenlernt.
Im Oktober 1944 wird die 23-Jährige ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Mit dem eingangs zitierten Satz versucht Trude Simonsohn das, infolge der im Lager allgegenwärtigen Todesangst, komplette Aussetzen ihrer Erinnerung zu erklären. Erst mit der Befreiung durch die Rote Armee im Mai 1945 setzt ihr Gedächtnis wieder ein. Berthold Simonsohn überlebte in einer Außenstelle des KZ Dachau. Seit etwa 1975 berichtet Trude Simonsohn als Zeitzeugin über ihre Erlebnisse im „Dritten Reich“.
Mit einem abgewandelten Zitat des österreichischen Widerstandskämpfers und Schriftstellers Jean Amery „Lernt zu einem Unrecht `Nein` zu sagen“, schlägt Trude Simonsohn die Brücke zum aktuellen Tagesgeschehen. An ihr Auditorium richtet sie die Frage, wer schon einmal einem Flüchtling oder einem anderen Diskriminierten geholfen habe. Als sie in diesem Zusammenhang an Carl von Ossietzky, den Namensgeber der Schule erinnert, reagieren die jungen Leute mit Applaus.
Bewusst zurückhaltend hat Angela Wagner-Bona vom Aktiven Museum die Veranstaltung moderiert.
Zeitzeugin Trude Simonsohn erzählt Jugendlichen in der Ossietzky-Schule von ihrem Martyrium (Wiesbadener Kurier, 22.06.2016)