Wiesbadener Tagblatt - Ausgabe vom 04. September 1985
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<<Drei Bürger haben Hydrazin im Blut >>
<< Gefahrlose Versorgung sicherstellen >>
Hochbauamt ordnete bereits 1981 an: Kein weiterer Einsatz von Hydrazin!
Magistrat verlangt Aufklärung, wie das Gift in den Trinkwasserkreislauf kommen konnte
eko. - Auch in seiner jüngsten Sitzung hat sich der Magistrat eingehend mit dem Korrosionsschutzmittel Hydrazin befaßt, anderthalb Stunden lang, wie Bürgermeister Dr. Wilhelm Wallmann im Anschluß an die Magistratssitzung erklärte. Aber auch in dieser Sitzung ist der Magistrat noch nicht zu einem abschließenden Ergebnis gekommen, zumal zusätzliche Überprüfungen von zahlreichen Anlagen in städtischen Liegenschaften, vor allem in Schulen und Turnhallen, durch das Fachinstitut Fresenius noch voll im Gange waren.• Wie der zuständige Abteilungsleiter im Gesundheitsamt, Walter Bodenschatz, erklärte, kommen für die Überprüfung von den 77 Schulgebäuden zehn und den 64 Sport- und Turnhallen 42 in Betracht, da diese Einrichtungen über eine zentrale Warmwasserversorgung verfügen. Wie jetzt bekannt wurde, hatte das Hochbau-amt bereits 1981 Anweisung gegeben, in städtischen Anlagen mit Wärmetauschern das Korrosionsschutzmittel Hydrazin nicht mehr einzusetzen. Ob diese Anweisung befolgt worden ist, konnte zum Zeitpunkt der Magistratsberatungen noch nicht gesagt werden. Da sich Hydrazin — wie Walter Bodenschatz erklärte - innerhalb von vier bis fünf Wochen von allein abbaut, dürften die vom Institut Fresenius begonnenen Untersuchungen in keinem Fall zu einem positiven Ergebnis kommen.
• Hygienebeauftragter Walter Bodenschatz hat inzwischen etwa 200 öffentliche Einrichtungen angeschrieben und um Auskunft gebeten, welches Korrosionsschutzmittel in ihren Warmwasserversorgungen verwendet wird. Die Möglichkeit, daß auch in zahlreichen privaten Einrich-tungen - vom zentral wärmeversorgten Wohnblock bis hin zum Einfamilienhaus - Hydrazin eingesetzt wird, ist nicht auszuschließen. Überall da, wo erhitztes Wasser als Wärmetransportmittel verwendet wird und die Erwärmung des zum Verbrauch dienenden Wassers über Austauscher erfolgt, kann Hydrazin im Spiele sein. Um den Übertritt in den Trinkwasser-kreislauf sicher zu verhindern, wird von Hochbauamtsleiter Herbert Schmidt die Zuschaltung eines dritten Kreislaufes empfohlen. Eine Modernisierung aller städtischen Anlagen in Richtung auf das Drei-Kreis-System würde etwa eine Viertel Million Mark kosten. Der Magistrat hat nunmehr das Dezernat von Bürgermeister Dr. Wallmann mit einer Reihe von Untersuchungen und Berichten beauftragt, mit denen sich unter Federführung des Organisationsamtes Personal-, Rechts- und Gesundheitsamt befassen sollen. Zunächst verlangt der Magistrat Aufklärung darüber, wie das Anti-Korrosionsmittel Hydrazin in den Trinkwasserkreislauf gelangen konnte. Es soll berichtet werden, mit Hilfe welcher organisatorischen Änderungen Vorkommnisse dieser Art künftig verhindert werden können.
• Es wird auch zu prüfen sein, „ob pflichtwidriges Verhalten einzelner vorliegt und gegebenenfalls welche personellen Konsequenzen daraus zu ziehen sind". Schließlich will der Magistrat festgestellt wissen, welche chemischen Verfahren und Mittel zum Korrosionsschutz in Warmwasseranlagen der Stadt verwendet werden. Alle diese Mittel sollen durch ein geeignetes Fachinstitut oder das Bundesgesundheitsamt gutachterlich daraufhin geprüft werden, ob sie toxikologisch unbedenklich sind.
Drei Bürger haben Hydrazin im Blut!
• hed. — Was Experten seit Tagen befürchteten und wovor die Verantwortlichen zitterten: Bei drei Klarenthalern wurde Hydrazin direkt im Blut festgestellt. Dies teilten die Wissenschaftler des Instituts für Arbeitsmedizin in Erlangen nach der Analyse von 170 Blutproben gestern Bürgermeister Dr. Wilhelm Wallmann mit. „Dies ist wirklich eine ganz furchtbare Angelegenheit", betonte Wallmann am Abend vor dem Umweltausschuß und dem Ausschuß für Kur, Kliniken und Gesundheit. Dies werde garantiert auch die medizinischen Diskussionen bundesweit im Bezug auf die gesundheitlich vertretbaren Grenzwerte „auf eine vollkommen neue Bahn" bringen. Fünf Mikrogramm galten für die Wissenschaftler in Erlangen als Nachweisgrenze für ihre Analysen. Jedoch gilt auch schon diese relativ geringe Menge als gesundheitlich schädlich. In zwei Blutproben wurden 20 Mikrogramm an Hydrazin, in einer gar 80 Mikrogramm an Hydrazin pro Liter Blut festgestellt.• Tiefe Betroffenheit löste diese Nachricht Wallmanns bei den Kommunalpolitikern, aber auch bei den anwesenden Zuhörern aus. Alle betroffenen öffentlichen Stellen („Und dies waren gut 200", so Dr. Wallmann) wurden mittlerweile seitens der Stadt ausführlich über die Vorfälle in Klarenthal unterrichtet. Zwar baut sich das Krebsgift Hydrazin im Blut innerhalb kürzester Frist, längstens 14 Tage, ab, eine genaue Auswirkung auf die besonders gefährdeten Organe, wie Leber, Niere und Lunge ist bisher jedoch noch nicht wissenschaftlich erforscht. Die Erlanger Wissenschaftler werden die Klarenthaler Proben nun nochmals einer Gegenanalyse unterziehen, um andere organische Schäden als eventuelle Ursache des hohen Hydrazin-Gehalts ausschließen zu können.
• Das Gesundheitsamt hat jetzt alle Wiesbadener Schulen angeschrieben. Ziel: in eventuell vorhandenen eigenständigen Heizwassersystemen soll Hydrazin, falls vorhanden, sofort entfernt werden.
Gefahrlose Versorgung sicherstellen
Ausschüsse fordern künftig Akteneinsicht/Rückhaltlose Untersuchung/Pannen aufgedeckt
hed. Eine gesundheitlieh gefahrlose Versorgung der Klarenthaler Bevölkerung mit Heizungswärme und Wasser soll künftig sichergestellt werden. Diese forderten gestern abend die Ausschüsse für Kur, Kliniken und Gesundheit und für Umwelt einstimmig vom Magistrat. Zusätzlich sollen künftig, auch nach Neutralisierung des Krebsgiftes Hydrazin, in kurzen Intervallen Kontrollen zur Sicherung des Trinkwassers vorgenommen werden.Die Parlamentarier forderten den Magistrat auf, alle Möglichkeiten zu prüfen, die eine technische Lösung der Korrosionsprobleme statt der bisher chemischen in den Leitungssystemen zum Ziel hat.
• Man ging jedoch noch weiter. SPD, CDU, Grüne und FDP forderten in seltener Einhelligkeit, zu klären, wie es zu den Vergiftungen im Klarenthaler Wasser kommen konnte und wo für diesen schwersten Fall von Umweltvergiftung in der Landeshauptstadt die Verantwortlichen zu suchen sind.
Auf Antrag der SPD-Mitglieder beider Ausschüsse will man auch eine langfristige gesundheitliche Betreuung der möglicherweise durch das Hydrazin Geschädigten auf Dauer gesichert sehen.
Alle Fraktionen erneuerten, wie dies CDU-Umweltsprecher Heinz Barth schon mehrmals getan hatte, ihre Forderung nach einem „sofortigen und endgültigen Verzicht auf Hydrazin". Klar war man sich in diesem Zusammenhang darüber, daß jede technische Lösung zusätzlicher städti-
scher Investitionen bedürfe.
• Zustimmung fand ein Antrag des Grünen Frank Brettschneider, den Parlamentariern in der laufenden Untersuchung des Hydrazin-Skandals und der Verwicklung einzelner städtischer Ämter unbeschränkte Akteneinsicht zu gewähren. „Das Parlament hat schließlich die Aufgabe, die Verwaltung zu kontrollieren", meinte Brettsehneider.
Auf Mißtrauen stieß denn auch die Ankündigung Bürgermeister Dr. Wilhelm
Wallmanns (CDU), die Federführung bei der Untersuchung dem
Ermittlungen angelaufen
• Umfangreiche Ermittlungen stellte die Wiesbadener Staatsanwaltschaft
gestern im Hydrazin-Skandal an. Damit bestätigten sich TAGBLATT-Be-
richte, wonach die Strafverfolgungsbehörde bereits am Montag aktiv gewor
den war. „Vor allem wegen der Presseberichte mußten wir aktiv werden", be-
stätigte Oberstaatsanwalt Karlheinz Zahl auf Anfrage. Mittlerweile seien
aber auch mehrere Anzeigen direkt betroffener Klarenthaler Bürger bei der
Staatsanwaltschaft eingegangen. „Auch ohne diese Anzeigen hätten
wir wegen des Ausmaßes der ganzen Sache tätig werden müssen", meinte der Staatsanwalt. Gestern stellten Beamte des Wiesbadener Polizeipräsidiums zunächst umfangreiches Aktenmaterial bei E S W E sicher, das derzeit die Spezialabteilung „Umweltschutz" des Landeskriminalamtes auswertet.
„Die Akten wurden aber freiwillig herausgegeben", betonte Staatsanwalt
Karlheinz Zahl. Ermittelt wird derzeit ausschließlich gegen die Wiesbadener Stadtwerke. Es darf vermutet werden, daß sich die Ermittlungen jedoch in den nächsten Tagen auch auf einzelne städtische Ämter ausweiten.
Organisationsamt, dem Personalrat und dem Gesundheitsamt der Stadtverwaltung zu übertragen.
Dadurch—so die Befürchtungen vieler - könne durch die Beteiligung der direkt in den Skandal Verstrickten, „wieder einiges unter den Tisch gekehrt werden" ( Umweltausschuß-Vorsitzender Wilfried Ries, SPD).
• Unmut machte sich unter den Kommunalpolitikern über den Ablauf der Trinkwasserversorgung durch Tankwagen in Klarenthal breit. Zwar setzte die Stadt drei Wagen ein, durch eine Panne „auf der unteren Verwaltungsebene" (Dr. Wallmann) wurden diese jedoch zurückgerufen.
„Mit Autos und Mofas sind manche Klarenthaler bis zur Fasanerie gefahren, um Wasser zu holen", entrüstete sich Ries. „Wenn es in Wiesbaden schon einen Katastrophenschutz-Zug gibt, warum wird er dann nicht in solchen wirklichen Katastrophen-Fällen eingesetzt?"
Durch die aktuellen Ereignisse, speziell durch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, fühlten sich die Kommunalpolitiker zudem an die Wand gedrängt: „Jetzt läuft das doch alles den Ausschüssen und dem Parlament aus der Hand", meinte Wilfried Ries, der die gemeinsame Sitzung der Ausschüsse leitete.
• Lobend hoben viele Ausschuß-Mitglieder die Arbeit des Gesundheitsamtes in den vergangenen Tagen hervor. Gelobt wurde aber auch Bürgermeister Dr. Wilhelm Wallmann, der immer wieder versucht hatte, zwischen den einzelnen Ämtern zu koordinieren und gleichzeitig den Kommunalpolitikern aller Fraktionen Informationen über die aktuelle Lage zukommen zu lassen.