Wiesbadener Tagblatt - die Ausgabe vom 26. August 1985
Helle Empörung über Trinkwasser-Skandal
Ortsbeirat: "Das ist ungeheure Schlamperei!"
Ingrid Benthaus: „Wir sitzen in Klarenthal auf einer Zeitbombe und haben echt Angst"/ Bürger sind verunsichert
hed.- Helle Empörung breitete sich am Wochenende unter den Klarenthaler Bürgern aus, als sie von einer möglichen Verseuchung ihres Trinkwassers durch den Krebserreger Hydrazin erfuhren. Ebenso wie die zuständigen Behörden und die verantwortlichen Kommunalpolitiker hatte niemand gewußt, welche Zeitbombe in den Rohren des Fernheizsystems tickte.Verständlicherweise war Hydrazin, dessen Name wohl allen bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt war, des Tagesthema in der Großsiedlung, wo man mit dem Slogan „Das grüne Tor nach Wiesbaden" auf Autoaufklebern und mittlerweile auch auf einer Fahne für eine besonders lebenswerte Atmosphäre wirbt.
Am Samstagvormittag stand man überall, in Supermärkten, Vorgärten, Toreinfahrten und auf den Bürgersteigen, in kleinen Gruppen zusammen, um über diese neuerliche Gesundheitsgefährdung nach Glykol im Wein und Frischei in den Nudeln zu diskutieren. Großes Unverständnis herrschte allgemein über die Formulierungen in einem Flugblatt, das ESWE-Mitarbeiter am späten Nachmittag an die Haushalte verteilt hatten und das vielen Bürgern gemeinsam mit dem „Kirchenkurier", einem Informa
tionsblatt der beiden Klarenthaler Kirchengemeinden, in die Briefkästen flatterte.
„Wir möchten Ihnen helfen, solche Schäden (Heizungswasser im erwärmten Trinkwasser, Anm. d. Red.) rechtzeitig festzustellen, damit Gegenmaßnahmen getroffen werden können. Wir werden deshalb in den nächsten Tagen das Fernheizwasser einfärben. Sollte beim Zapfen von warmem Wasser gefärbtes Wasser auftreten, so ist der Boiler Ihrer Anlage defekt", heißt es lapidar in dem ESWE-Flugblatt.
Kein Wort also über das krebserregende Hydrazin, das möglicherweise in das Kaffeewasser gelangen könnte. Verständlich, daß das die Empörung über den eigentlichen Gift-Skandal bei den direkt betroffenen Bürgern noch steigerte.
• „Wir sitzen auf einer Zeitbombe; wir haben echt Angst", erklärte Ingrid Benthaus (SPD), die Klarenthaler Ortsvorsteherin dem TAGBLATT. Sie forderte Stichproben in allen Häusern. Auch in den Gebäuden der Wohnungsbaugesellschaften müßten die Wärmeaustauscher überprüft werden.
• Ingrid Benthaus, selbst Mutter eines grundschulpflichtigen Kindes, setzte sich nachdrücklich für die Untersuchung aller besonders gefährdeten Kinder und Lehrer ein. Als unverständlich bezeichnete sie es, daß noch am Freitag der Schulbetrieb normal durchgeführt worden sei, obwohl den Verantwortlichen zu diesem Zeitpunkt die Verseuchung des Wassers in der Schule bereits bekannt war.
• Für die nächste Sitzung des Klarenthaler Ortsbeirates kündigte die Ortsvorsteherineinen Dringlichkeitsantrag an, der sich „mit dieser ungeheuerlichen Schlamperei" befassen werde. Seit Beginn des Baus der Großsiedlung Klarenthal, so Ingrid Benthaus, habe es immer wieder Pannen gegeben. Der Ortsbeirat werde „nicht locker lassen", bis alle Verantwortlichkeiten für diesen neuerlichen Skandal aufgeklärt seien.
• Für einen endgültigen und sofortigen Verzicht auf Hydrazin im Primärkreislauf der Warmwasserversorgungen aus Heizwerken hat sich der CDU-Stadtverordnete Heinz Barth, umweltpolitischer Sprecher seiner Fraktion, ausgesprochen. „Und das ohne jedes Wenn und Aber, schließlich geht es um die Gesundheit der Bürger", erklärte Barth gegenüber dem TAGBLATT.
• Vom Färben des Wassers hält der CDU-Stadtverordnete „rein gar nichts". Denn wenn es darauf ankomme und gefärbtes Wasser aus den Trinkwasserhähnen komme, würden gerade die Kinder „nach aller Lebenserfahrung" das gelbe Wasser mit dem größten Spaß als Limonade trinken.
Heute werden erste Kinder untersucht
Blut-Tests sollen Aufschluß geben/Überall nur ein Thema/ Pausenlos ging das Telefon
- Sie hatten am Wochenende viel zu tun, die Experten des Wiesbadener Gesundheitsamtes. „Uns ging es am Samstag in erster Linie darum, die Sicherheit der Grundschüler zu gewährleisten", erklärte die Leiterin des Gesundheitsamtes, DT. Ingeburg John, am Sonntag dem TAGBLATT auf Anfrage. In der Grundschule an der Geschwister-Scholl-Straße waren am Freitag mit 10,7 Milligramm pro Liter die höchsten Hydrazin-Werte im Trinkwasser festgestellt worden; ein extrem hoher Wert, wenn man weiß, daß ESWE maximal 5 Milligramm pro Liter dem Heizwasser im Fernheizwerk beimischt. Von einer vorübergehend erwogenen Schließung der Schule war zunächst die Rede. Am Samstag wurden nochmals zwei Wasserproben aus dem Wärmeaus-tauscher entnommen und auf Spuren des krebserregenden Hydrazins untersucht. Das Ergebnis stellte die Gesundheitsamts-Mitarbeiter voll zufrieden. Im kalten Wasser fanden sich keine Anteile an Hydrazin mehr, nachdem das System durchgespült worden war. Das warme Wasser wurde abgestellt. Die Grundschule selbst wird am heutigen Montag ungefährdet ihren Betrieb aufnehmen können, und schon am Dienstag, so hofft Dr. Ingeburg John, wird man den 345 Grundschülern und ihren Lehrern in den Labors an der Dotzheimer Straße Blutproben entnehmen können. Am heutigen Montag werden bereits die 90 betroffenen Kinder des Kinderhorts an der Theodor-Haubach-Straße mit ihren Betreuerinnen dieser medizinischen Kontrolle unterzogen. Durch die Bluttests kann nachgewiesen werden, ob sich möglicherweise Hydrazin im Kreislauf befindet. Wie berichtet, wird das Korrosionsschutz-Mittel Hydrazin im menschlichen Körper nicht abgebaut, sondern lagert sich in Leber und Nieren ab, wo das Krebsgift zu Langzeit-Schäden führen kann.
- „Bei uns standen die Telefone nicht mehr still", erklärte ein Mitarbeiter des Entstörungsdienstes der ESWE-Fernwärmeversorgung. Viele aufgeregte Bürger fragten dort nach, wie sie sich verhalten sollten und wollten zusätzliche Details erfahren. Bereits am Freitag war es gelungen, den Lebensmittel-Farbstoff Uranin zu beschaffen, den man um 15 Uhr in das Fernheizsystem einspeiste. Bis 19 Uhr hatte sich der Farbstoff, der das Wasser grün bis gelb einfärbt, im gesamten Leitungsnetz verteilt. Am Samstag dann Alarm für die ESWE-Mitarbeiter. In einem privaten Einfamilien-Haus hatte sich eine Verfärbung des Trinkwassers eingestellt. Der defekte Wärmeaustauscher wurde sofort abgedreht. Glücklicherweise blieb dies zunächst der einzige Fall.