Wiesbadener Tagblatt - die Ausgabe vom 27. August 19885

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Wußte die Verwaltung schon im Juli Bescheid?

Unklarheiten schaffen noch mehr Verwirrung

Ingrid Benthaus: Verätzungen wurden schon vor einem Monat gemeldet/Drei neue Fälle/Geräte werden ausgetauscht

neu. —  Ratlosigkeit auf der einen Seite, Verwirrung und Empörung auf der  anderen: so läßt sich der neueste Stand im Hydrazin-Skandal am besten  zusammenfassen. Wie berichtet, war das krebserregende Gift  in  Klarenthal über das  Fernheizsystem in die Trinkwasserversorgung  gelangt.
Bereits am 10. Juli diesen Jahres informierten Mitglieder des SC Klarenthal ihren  Vorsitzenden  Bernhard  Karsch, daß aus  den  Duschen  in  der  Turnhalle  der Grundschule öliges und stinkendes Wasser komme, das zu Verätzungen auf der  Haut geführt habe. Das teilte Klarenthals Ortsvorsteherin  Ingrid  Benthaus  (SPD)  dem TAGBLATT gestern mit. Der SC-Vorsitzende habe daraufhin, weil er in Urlaub fuhr, einen  Vorstandskollegen  beauftragt,  das staatliche Schulamt als Aufsichtsbehörde von diesem Vorfall zu unterrichten.
Beim weiteren Verlauf der Dinge schieden sich gestern die Geister. Anfang August habe der Sportverein das Dusch-Wasser im gleichen Zustand vorgefunden, war von der Ortsvorsteherin zu erfahren. Daraufhin habe sich der SC-Vorsitzende nochmals  mit dem  zuständigen  Sachbearbeiter des Schulamtes kurzgeschlossen.
Das Ganze bezeichnete Ingrid Benthaus als „unglaubliche Geschichte", zumal auch der Leiter der Grundschule, Heinz Raab, erst durch die Medien von dem drohenden Unheil für seine Schule erfahren habe.
Kultur- und Schuldezernent Prof. Dr. Franz Bertram (SPD) sah die Situation im Gespräch mit dem TAGBLATT anders:
„Keiner meiner Mitarbeiter wußte im Juli bereits Bescheid." Der zuständige Sachbearbeiter, derzeit in Urlaub, sei ein „überaus korrekter Mann. Von ihm existiere eine Gesprächsnotiz vom 14. August. Erst zu diesem Zeitpunkt sei der Vorsitzende des SC Klarenthal im Schulamt vorstellig geworden.
Der Befund damals habe nicht auf „stinkendes ätzendes Wasser" gelautet. Trotzdem habe sein Amt das zuständige städtische Hochbauamt, Abteilung Heizungs- und Gesundheitstechnik, informiert und dort seien weitere Maßnahmen ergriffen worden. Zugeben mußte Prof. Dr. Bertram allerdings, daß auf Befragen der Mitarbeiter bekannt geworden sei, daß bereits vor diesem Zeitpunkt (14. August) sich der Hallenwart der Klarenthaler Turnhalle in der gleichen Abteilung über „Schmutzwasser in den Duschen" beschwert hatte.
Das städtische Hochbauamt gab mittlerweile Anweisung, die defekten Wärmeaustauscher sofort auszubauen. Neue Geräte wurde bestellt und sollen in den nächsten Tagen montiert werden.
„Jetzt sind wir dabei, das Wasser neu aufzubereiten. Außerdem sollte man abwarten, ob sich nach den Spülungen am Freitag noch etwas im System befindet", erklärte der Leiter des Hochbauamtes, Dipl.-Ing. Herbert Schmidt, auf Anfrage. So rasch wie möglich, so die Forderung des Hochbauamtes, müsse man außerdem den Heizwasser- und Trinkwasser-Kreislauf um einen dritten erweitern, um solche Schäden für die Zukunft sicher auszuschließen.
Bürgermeister Dr. Wilhelm Wallmann (CDU) stellte sich gestern vor seine Ämter. Weder das Gesundheitsamt, noch das Schulamt hätten zu einem früheren Zeitpunkt von der Verseuchung des Trinkwassers gewußt, meinte der Politiker. Als das Ausmaß des Schadens bekannt geworden sei, habe der zuständige Sachbearbeiter des Schulamts sofort das Hochbauamt informiert, worauf das System durchgespült worden sei.
40 Kinder aus der Kindertagesstätte wurden gestern untersucht; heute sind nochmals 50 an der Reihe. Fünf Teams des Gesundheitsamtes werden außerdem heute die Grundschule besuchen. "Ein Team kann aber höchstens 40 bis 50 Kindern Blutproben entnehmen, so daß der Rest am Mittwoch der medizinischen Kontrolle unterzogen wird", teilte die Leiterin des Gesundheitsamtes, Dr. Ingeburg John mit. Einen Tag lang werden Kinder und Eltern zittern müssen. Danach stehen die Ergebnisse der Untersuchungen, die in  den Labors der städtischen Kliniken vorgenommen werden, fest. Nur ein kleiner Teil der aufgenommenen  Hydrazin-Menge  lagere sich im Körper ab, so die Leiterin des Gesundheitsamtes. Aber: „Die Beantwortung der Frage, wie die Kinder zu behandeln sein werden,  bei  denen  Hydrazin  festgestellt wurde, müssen wir den Kliniken überlassen", sagte Dr. Ingeburg John.
In drei weiteren Einfamilien-Häusern an der Graf-von-Galen-Straße tauchte gestern Hydrazin im Trinkwasser auf. Mitarbeiter der  ESWE  stellten  daraufhin  sofort  die Wärmeaustauscher ab, teilte ESWE-Direktor Heinz Lörsch dem TAGBLATT mit. „Die Boiler in den Häusern waren aber auch von billigster Ausführung. Davon haben wir immer abgeraten", meinte Lörsch. ESWE  hoffe  auf  die  neuen  DIN-Vorschriften, die den  Einbau solcher Geräte verbieten  und  gleichzeitig jährliche Prüfungen vorschreiben. „Aber auch nach Inkrafttreten dieser Richtlinien werden wir auf den Zusatz von Hydrazin nicht verzichten können. Im Moment gibt es dafür keinen wirksamen Ersatz."

 

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Sitzung sofort

 

Die sofortige Einberufung des Umweltausschusses im Hinblick auf die Vorkommnisse bei der Trinkwasserversorgung in Klarenthal forderte gestern der umweltpolitische Sprecher der CDU-Fraktion im Stadtparlament, Heinz Barth. Es gehe nicht an, daß die Stadtverordneten ihre Information in einer solch wichtigen Frage aus den Medien beziehen müßten. Weitreichende Entscheidungen, die unmittelbar zu treffen seien, müßten schnellstmöglich diskutiert werden. Wer auch nur einen Tag unnötig verstreichen lasse, so Barth, werde dem Ernst der Thematik nicht gerecht. Man müsse sich wundern, warum der Vorsitzende des Umweltausschusses nicht bereits mit verkürzter Ladungsfrist dafür gesorgt habe, daß wenigstens die Umweltfachleute umfassend von Bürgermeister Dr. Wallmann informiert werden konnten. Der CDU-Stadtverordnete forderte in einem Schreiben an den Vorsitzenden des Umweltausschusses, daß das Gremium noch vor der Routinesitzung am Dienstag, 3. September, 17 Uhr, im Raum 121 des Rathauses, zu einer Sondersitzung zusammentreten sollte.

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Forderungen


In  seiner nächsten öffentlichen Sitzung  am  Donnerstag,  29. August, 18.30 Uhr, in der Altenwohnanlage  an der Goerdelerstraße 47, wird sich der Klarenthaler Ortsbeirat mit dem Gift-Skandal befassen. Auf Anweisung von Ortsvorsteherin  Ingrid  Benthaus (SPD) lud die Ortsverwaltung  gestern hierzu  auch Bürgermeister Dr.  Wilhelm Wallmann, Vertreter des Gesund-heitsamtes und der ESWE ein. Die  SPD-Fraktion  im Ortsbeirat drückte mittlerweile ihre Mißbilligung darüber aus, daß „Hydrazin in  das Fernheizsystem  eingespeist wird, zumal die gleiche Angelegenheit  schon seit drei Jahren durch die Vorfälle im Schelmengraben bekannt ist". Den Magistrat forderte man auf, alle Maßnahmen zur  Sicherung  der  Gesundheit der Bevölkerung in die Wege zu leiten und zu veranlassen, daß  alle Wärmeaustauscher auf  ihre  Dichtigkeit überprüft werden. Nach dem Willen der  Klarenthaler SPD soll der Magistrat gleichzeitig mit ESWE verhandeln. Ziel soll der  Aus-ausch aller Zulaufrohre durch korrsionsfeste  Kupferrohre  sein. Weitere Forderung: Sofortiger Verzicht auf Hydrazin.

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Kommentar

 

„So schnell hat die Verwaltung noch nie gearbeitet",  meinte Bürgermeister  Dr. Wallmann gestern. Dem betroffenen „End-verbraucher" des Trinkwassers nützt eine solche Erkenntnis nichts, ist erst einmal das Kind in den sprichwörtlichen Brunnen gefallen. Alle Verantwortlichen verbarrikadierten sich in den letzten Tagen hinter einem Wall von Vorschriften, die man einge-halten habe.
Daß diese  Vorschriften im Endeffekt nicht dazu beitrugen, die Gesundheit der Bürger zu schützen, zeigt ihre Unzulänglichkeit deutlicher denn je auf Sich jetzt, wie ESWE-Direktor Heinz Lörsch, hoffnungsvoll auf die neuen DIN-Normen zurückzuziehen, die irgendwann bald in Kraft treten sollen, zeigt eigentlich das höchste Maß an Ungeschick.
Die Schuldzuweisungen der letzten Tage verdeutlichen einmal mehr, wie durch Inkompetenz, aber auch durch die Tretmühle der Bürokratie unglaubliche Fehler gemacht werden können, für die das Substantiv „Schlamperei", wie auch vom Klarenthaler Ortsbeirat benutzt, noch viel zu harmlos ist.  
Der Magistrat wird sich fragen lassen müssen, und dies kündigte der Vorsitzende des  Umweltausschusses,  Wilfried  Ries (SPD) bereits an, ob er von der Beimischung des Krebsgiftes (vor allem nach dem Vorfall im Schelmengraben) wußte. Und, wenn ja, warum der Magistrat nicht über den Aufsichtsrat von ESWE, in dem er vertreten ist, sich gegen die permanent andauernde Gesundheitsgefährdung gewehrt hat. Seit 50 Jahren gibt es Fernheizwerke in Deutschland, aber erst in diesem Jahr platzte in Wiesbaden eine Zeitbombe, die viele Politiker in anderen Kommunen aufmerksam werden läßt. Und diese könnten aus dem Skandal in der hessischen Landes-hauptstadt nur lernen. Da behauptet beispielsweise ESWE-Direktor Heinz Lörsch, er habe nie vom Hydrazin im Heizwasser gewußt, seitdem er vor drei Jahren seine Stelle antrat. Und indirekt macht er den Kunden für den Schaden verantwortlich. ESWE habe ja immer zum Einbau korrosionsfreier Wärmetauscher geraten. Daß niemand jedoch den Bürger über die Gefahren informierte, denen er sich aussetzt — das wird unter den Tisch gekehrt.  Bertram Heide 

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