Wiesbadener Tagblatt - die Ausgabe vom 28. August 1985

Mit der Seitensteuerung zu den den Artikeln

  << Vorschläge  >>

  << Konsequenzen  >>

  << Sofort-Verbot  >>


Bei vier kleinen Kindern Hydrazin festgestellt

Krebsgift-Skandal gewinnt neue Dimensionen

Für heute sind Zwischenergebnisse der Untersuchung von Grundschülern angekündigt/Nach wie vor Unklarheiten

hed. - Die Hiobsbotschaft erreichte die Verantwortlichen gestern um 12 Uhr: bei vier der 40 Kindergarten-Kinder, die am Montag untersucht worden waren, stellten die Laboranten der städtischen Kliniken Hydrazin im Blut fest. Bürgermeister Dr. Wilhelm Wallmann sprach in diesem Zusammenhang gegenüber dem TAGBLATT von „erheblichen Veränderungen", die der Hydrazin-Skandal dadurch erfahren habe.                                                    • Die Untersuchungsergebnisse versuchte die Leiterin des städtischen Gesundheitsamtes, Dr. Ingeburg John, allerdings abzuschwächen. Es bedürfe noch „der endgültigen klinischen Abgrenzung, ob die Erhöhung der Leberwerte wirklich mit Hydrazin zusammenhängt, oder auf andere Krankheiten zurückzuführen ist". Bisher, so die ratlose Medizinerin auf Befragen, sei auch nicht bekannt, welche Auswirkung eine Hydrazin-Vergiftung auf den Menschen haben könne und was nun konkret bei den betroffenen drei- bis sechsjährigen Kindern getan werden könne. Das Gesundheitsamt wird jetzt auf jeden Fall, auf Beschluß des Wiesbadener Magistrats, alle Haushalte entlang der Graf-von-Galen-Straße und der Werner-Hilpert-Straße untersuchen. Unklar ist bisher, aus welchen Gründen gerade im unmittelbaren Umkreis des Fernheizwerkes Lecks in den Wärmetauschern von Kita, Schule und vier Einfamilien-Häusern auftauchten. Beim Arbeitsamt beantragte die Stadt mittlerweile, daß ein zusätzlicher Arzt und ein Hygienetechniker für die notwendigen langfristigen Untersuchungen zur Verfügung gestellt werden. „Dieses Ausmaß an Stichproben können wir personell nicht verkraften".                                                                       • Untersuchen will man die Vereinsmitglieder des SC Klarenthal, die sich über öliges, stinkendes Wasser in den Duschräumen der Turnhalle beschwert hatten und Ätzungen auf der Haut registrierten. SC-Vorsitzender Bernhard Karsch erklärte in diesem Zusammenhang nochmals gegenüber dem TAGBLATT: „Wir haben die Mißstände am 11. Juli dem Schulamt mitgeteilt. Wir bestehen darauf, daß diese Tatsache festgehalten bleibt".                                                                                                    • Unklar ist offiziell weiterhin, ob das städtische Schulamt nicht doch bereits vor mehr als einem Monat von den Vorgängen Kenntnis hatte, zumal, wie gestern bereits berichtet, ein Mitarbeiter sich an eine entsprechender Meldung des Klarenthaler Hallenwartes erinnern konnte, der sich über „Schmutzwasser" beklagt hatte. Merkwürdig erscheint außerdem, daß nach Aussage des Schulamts-Dezernenten in diesem Amt aus den Akten nicht zu rekonstruieren sein soll, ob man bereits im Juli informiert wurde. Vielmehr muß man sich auf das Gedächtnis von zwei Mitarbeitern stützen, von denen einer zur Zeit wegen Urlaubs nicht erreichbar ist.                                         • Aus den Monaten Juni und Juli liegen dem Hochbauamt keine Meldungen über Verunreinigungen im Turnhallenwasser vor. Dies bestätigte nochmals Amtsleiter Herbert Schmidt. Am 12. August habe man eine Firma beauftragt, das System zu überprüfen. Nach Auskunft der Handwerker sei danach alles wieder in Ordnung gewesen. Schmidt schien allerdings nicht ausschließen zu wollen, daß telefonische Kontakte zwischen seinem und dem Schulamt bestanden haben könnten: „Eine schriftli-che Mitteilung ist immer besser als eine fernmündliche".                                                                                • Der Magistrat der Landeshauptstadt beschloß in seiner gestrigen Sitzung, das Bundesgesundheitsamt, den Bundesgesundheitsminister und den Bundesbauminister ausführlich über die Vorgänge zu informieren. Auch den kommunalen Spitzenverbänden habe man ein entsprechendes Schreiben zugesandt, sagte Bürgermeister Dr. Wilhelm Wallmann.
Letzte Meldungen
• Offensichtlich war die Flugblatt-Aktion der Stadtwerke doch nicht flächendeckend, wie vorher ausdrücklich angekündigt. In einem der Klarenthaler Altenwohnheime war kein einziges der wichtigen Informationsblätter aufzutreiben. In der kleinen Turnhalle der Grundschule wurde das warme Wasser in den Duschräumen wohl doch nicht abgedreht. Am Montagabend warnte der Hausmeister zumindest zwei Turn- und Gymnastik-Gruppen des SC, die Duschen zu benutzen. Alle Fernheizwerke sollen jetzt untersucht werden. Bisher wurde bekannt, daß in zwei weiteren Fernheizwerken (von insgesamt 11, davon vier unter Aufsicht der Amerikaner) Hydrazin als Korrosionsschutz-Mittel verwandt wird: und zwar im Heizwerk am Theater-Parkhaus, das auch das Kurhaus versorgt, und am Loreleiring. Dieses Heizwerk wird von der GWG betrieben. Hydrazin-frei sind die Heizwerke in Delkenheim und der Großsiedlung Schelmengraben, die vom Institut Fresenius einer Kontrolle unterzogen wurden.                                  • Keinerlei Aussagen können die Exper-ten bisher treffen, welche Auswirkungen das Hydrazin auf die betroffenen Kinder hat. Daten über Karzinome liegen nur aus Versuchen mit Kleintieren vor. Man geht allerdings davon aus, daß Hydrazin bei längerer Anwendung Organveränderungen hervorruft. Bei einer akuten Vergiftung sind Hautschäden bis zu Verbrennungen und innere Schädigungen möglich, die auch zum Tode führen können. Heute wird sich um 14.30 Uhr der ESWE-Aufsichtsrat mit dem Hydrazin-Skandal befassen. Um 16.30 Uhr tagen die Parlaments-Ausschüsse für Umwelt sowie für Kur und Kliniken.

<<Seitenanfang>>                                                                

Vorschläge

Konstruktive Vorschläge zur Sicherung der Wasserqualität in Klarenthal machte gestern der SPD-Landtagsabgeordnete Frank Beucker. Technisch möglich sei der vollständige Verzicht auf die Beifügung der chemischen Substanz zum Warmwasser, meinte der ehemalige ESWE-Pressesprecher. Es müsse davon ausgegangen wer-den, so Beucker, daß die rund 20 Jahre alten nicht korrosionsbeständigen Wärmeaustauscher nach und nach durchlässig würden. Beucker schlug daher ESWE vor, ein Kreditprogramm aufzulegen, mit dem zügig alle Wärmeaustauscher, es handelt sich um 500, ausgewechselt und die Hauseigentümer nicht übermäßig finanziell belastet würden. Gegenüber dem TAGBLATT sprach Beucker von der „begründeten Hoffnung, daß dieser Gedanke des Kreditprogramms von ESWE positiv aufgenommen wird".

<<Seitenanfang>>                                                                  << Zurück >>

Konsequenzen

Personelle Konsequenzen bei ESWE, so den Rücktritt von  Direktor Heinz Lörsch, forderten die Grünen im Rathaus  angesichts  des  Hydrazin-Skandals. „Bei ESWE liegt eindeutig ein fahrlässiges Verhalten  vor. Die Schäden wären vermeidbar gewesen", meinte Frank Brettschneider vor dem Hintergrund  der Untersuchungsergebnisse  gestern gegenüber dem TAGBLATT. Die Grünen fordern außerdem eine umgehende Erneuerung der Heizungsrohre. Den aktuellen Fall bezeichnete man als die Spitze eines Eisbergs und forderte eine strenge Untersuchung.
Die „zurückhaltende Informationspolitik" der offiziellen Stellen bezeichnete man  als „unverantwortlich". „Offensichtlich wurde Hydrazin auch nur eingesetzt, weil es billiger ist, und das finden  wir  sehr  bedauerlich",  meinte Brettschneider.

<<Seitenanfang>>                                                                  << Zurück >>

Sofort-Verbot

In gleichlautenden Schreiben an den Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit und den Bundesbauminister  forderte  der  Wiesbadener SPD-Bundestagsabgeordnete  Rudi Schmitt die Bundesregierung auf, die Anwendung von Hydrazin zu verbieten. Das Krebsgift findet bekanntlich in vielen industriellen Bereichen Anwendung. Was sich in Klarenthal, einem Stadtteil mit 12 000 Einwohnern, ereignet habe, könne sich in anderen Wohngebieten  der  Bundesrepublik  jederzeit durch technische Mängel oder menschliches Versagen wiederholen, warnte der ehemalige Wiesbadener Oberbürgermeister. Deshalb müsse im Interesse der Gesundheit der Menschen das Hydrazin sofort aus dem Verkehr gezogen werden. ,,Der Schutz der Gesundheit ist wichtiger als der Rostschutz in Heizanlagen" meinte Rudi Schmitt.

<<Seitenanfang>>                                                                  << Zurück >>