Wiesbadener Tagblatt - die Ausgabe vom 29. August 1985

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Klarenthal: Krebs-Gift in Hochhaus gefunden

117 Blut-Untersuchungen blieben ohne Befund

ESWE: Hydrazin kann nicht aus Heizwasser herausgenommen werden/Politiker protestieren

hed. - Licht ins Dunkel des  Hydrazin-Skandals versuchten  gestern die Mitglieder des Umweltausschusses und des Ausschusses für Kur, Kliniken und Gesundheit zu bringen. Nach den neuesten  Untersuchungsergebnissen an 107 Grundschülern und 10 Lehrern wurden keine erhöhten Leberwerte, jedoch bei zwei Lehrern und zwei Schülern veränderte Nierenwerte  festge-stellt.
Ob dies auf den Einfluß von Hydrazin im Trinkwasser zurückzuführen sei, ließ sich gestern abend von medizinischer Seite in der dreistündigen Sitzung nicht eindeutig klären. Bekanntgegeben wurde jedoch, daß sich Hydrazin in längstens 14 Tagen in den Blutbahnen des menschlichen Körpers abbaut und dann labortechnisch nicht mehr nachzuweisen ist. Danach können bei organischen Untersuchungen nur noch Vermutungen über Hydrazin-Schädigungen angestellt werden.
•  Mittlerweile wurde auch in einem Hochhaus mit 24 Wohneinheiten in unmittelbarer Nähe des Heizwerkes in Klarenthal Hydrazin  im  Trinkwasser  festgestellt. Dies veranlaßte das Gesundheitsamt, sein Angebot zur Untersuchungen betroffener Bürger auf die Bewohner dieses Hauses auszu-weiten. Ab 8.15 Uhr können sich heute in der Geschwister-Scholl-Schule  die  Betroffenen direkt auf Hydrazin im Blut untersuchen lassen.
•  Nach einer Sitzung des ESWE-Auf sichtsrates wurde  gestern außerdem bekannt, daß  das  Versorgungsunternehmen den Klarenthaler Bürgern einen Fond mit fünf Millionen Mark an zinsgünstigen Darlehen zur Verfügung stellen wird.  Mit   diesem Geld sollen Wärmeaustauscher und  Rohr-Systeme auf einen technisch  einwandfreien Stand gebracht  werden. Das  Führungsgremium  der  Stadtwerke machte aber auch  deutlich, daß nicht  vollständig  auf  die  Beigabe  von  Hydrazin im Heizwasser  verzichtet werden  könne. Man werde die Hauseigentümer jetzt  schriftlich informieren und auffordern, innerhalb von vier Wochen einen schriftliehen Beleg über
die  Prüfung  ihrer  Wärmeaustauscher  zurückzusenden.
Gleichzeitig wurde einem Prüfer der  Auftrag erteilt, die Anlage zu untersuchen  und auch nach technischen  Verbesserungsmöglichkeiten und einem  möglichen Ersatz für das  Krebsgift Hydrazin zu forschen,  teilte ESWE-Direktor  Heinz  Lorch vor den  Ausschüssen des Stadtparlamentes mit.
• Die Forderung aller politischen Gremien und  der  Stadtverwaltung,  Hydrazin  sofort   aus  dem Heizungssystem  zu entfernen,  bezeichnete Lorch als  so nicht machbar. Auf Nachfrage  bestätigte  er,  daß  das  Versor-
gungsunternehmen  auch  weiterhin  den Stoff  beigeben  werde. Dieter Berlitz (SPD) verlangte  daraufhin, ESWE notfalls mit einem  Zwangsgeld  zu dieser  Maßnahme  zu zwingen. 850 000 Liter Heizwasser  befinden sich in
dem Klarenthaler System. Eine  Entleerung  würde  14 Tage in Anspruch  nehmen,  über  280 Stunden  müßten die Bewohner auf warmes Wasser verzichten. Dies wurde von den Politikern  allerdings  als  nicht  so  gravie-
rend  angesehen, da  die  Frage der  Entsorgung lösbar sei und das Wasser zudem  mit einer  Chlorverbindung  hydrazinfrei  gemacht werden  könnte.
•  480 Anlagen sind an das Fernheiznetz  angeschlossen. Nur 20 bis 30, so ESWE,  verfügen derzeit noch über verzinkte, also leichter  korrodierende  Rohrsyteme.  Auf Befragen  mußte ESWE-Direktor Heinz Lorch allerdings zugeben, daß bereits vor zwei Jahren 25 beschädigte Wärmeaustauscher  festgestellt worden  seien. Nach einem  Schreiben  an die Hausbesitzer seien 21 erneuert worden. Die vier bereits beschädigten seien mit  denen  identisch,  die  in  Häusern  der Graf-von-Galen-Straße  in  den  letzten  Ta-
gen als hydrazin-durchlässig bekannt  worden seien.
•  Harte Beschuldigungen  mußten sich die ESWE-Vertreter  von  Vertretern  aller Parteien  anhören.  So  wurde  bekannt,  daß nach  dem  Vorfall  im Schelmengraben  Gesundheitsamt  und  ESWE  gemeinsam  bei übergeordneten  Stellen vorstellig wurden, um  auf  eine  Änderung  der  DIN-Normen hinzuwirken. Gleichzeitig fand jedoch Hydrazin im ESWE-Fernheizwerk  in Klarenthal weiterhin Verwendung.
Dies, und auch  die Aussagen der  ESWE-Mitarbeiter, waren  nochmals  Anlaß für die Grünen, den  Rücktritt von Direktor Heinz Lorch nachdrücklich zu fordern.
•  Mit Spannung wird die heutige  Sitzung des Klarenthaler Ortsbeirates um 18.30 Uhr zu  erwarten  sein.  Ortsvorsteherin  Ingrid Benthaus  (SPD)  machte  bereits  deutUch, daß die Auskünfte von gestern die Bevölkerung nicht beruhigen könnten.                

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Erlaß an Ämter

Der  Hessische  Sozialminister  Armin Clauss (SPD) hat in einem Erlaß die Gesundheitsämter des Landes über die Gefahren von Hydrazin im Trink-wasser informiert. Der Minister betonte heute gegenüber dem TAGBLATT, eine mögliche Verunreinigung  des Trinkwassersystems  mit Hydrazin könne überall dort befürchtet werden, wo die Erwärmung des  Trinkwassers über Durchlauferhitzer geschehe, die von Fernheizwerken mit  Heizwasser versorgt würden. In seinem Erlaß gab Armin Clauss auch genaue  Handlungsanweisurigen an die Gesundheitsämter. Im  Verdachtsfall müsse abgeklärt werden, ob die Wasserzubereitung über von Fernheizwerken geliefertes Wasser geschehe, ob das Heizwasser durch  Farbstoff kenntlich gemacht sei und welche regelmäßigen Kontrollen der  Durchlauferhitzer stattgefunden hätten.
Bei Verdachtsmomenten irgendwel-cher Art veranlaßte der Minister die Ämter, die gesamten Trinkwassersysteme sofort auf Hydrazin zu untersuchen und die Bevölkerung „umgehend init unbelastetem Trinkwasser" zu versorgen. Der  Sozialminister  empfahl denÄmtern gleichzeitig, in solchen Fällen unverzüglich „eine vorsorgliche medizinische Untersuchung  exponierter Personen vorzunehmen".
Nachdrücklich deutlich machte  Armin Clauss, daß  Hydrazin sehr toxisch und innerhalb der MAK-Wert-Liste als krebserregend  eingestuft  ist.  Neben der  stark ätzenden Wirkung könne auch das zentrale und das  periphere Nervensystem gestört  werden.  Bei chronischer  Aufnahme  seien,  neben Leber und Niere, auch Ablagerungen in der Lunge zu befürchten. 

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Offene Fragen

„Wir gehen davon aus, daß dies nur die Spitze eines Eisberges ist. Wir halten es für möglich und befürchten, daß schon seit Jahren kleinere Mengen Hydrazin, z. B. durch Haarrisse ins Trinkwasser gelangten". Diese   Feststellung traf jetzt der Arbeitskreis Umweltschutz, eine außerparlamentarische Initiative interessierter Bürger.
Die  Handlungsweise  der  Verantwortlichen als schlampig und verant-wortungslos zu bezeichnen, sei unzureichend, „vielmehr dürfte die Bezeichnung kriminell zutreffender sein". Im Interesse der Geschädigten und  zur Vermeidung weiterer Pannen hält der Arbeitskreis  eine bloße  personelle Schuldzuweisung  für  nicht  ausreichend.
Der AKU fragt nun, wieso seit drei Jahren im Schelmengraben ein anderes  Korrosionsschutzmittel  verwandt werde und in Klarenthal nicht. „Wie schlecht sind die Informationsstrukturen in der Stadtverwaltung?", will man in diesem Zusammenhang wissen. Geklärt wissen will man auch, was  sich hinter  dem  Alternativmittel „Hydrogel" verbirgt, und ob dies eine Verseuchung im Schelmengraben  ausschließe.
Unerklärlich findet  es der  Arbeitskreis, daß man das Trinkwasser keiner Endkontrolle unterziehe, obwohl man von der Gefahr des Übertritts von Heizwasser habe wissen müssen. Gefordert wird auch eine regelmäßige Kontrolle der Wärmeaustauscher.
Michael  Wilk,  Sprecher  des  AKU: „Wir fordern die sofortige vollständige Entfernung von Hydrazin und ähnlich gefährlicher Stoffe  aus  den Primär-kreisläufen".

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Alternativen

Man  kann  den  Umgang  mit  dem hochgiftigen, krebserregenden Hydrazin auch vollkommen anders  gestalten. Das  beweist  ein  Blick  auf  die  andere Rheinseite.  In Mainz gibt es  Fernwärme in der Innenstadt,  auf dem  Lerchenberg,  der  Berliner  Siedlung  und  der Universität.
Seit  1960  fügt  die  Heizkraftwerk GmbH, eine lOOprozentige Tochter  der
Kraftwerke  Mainz-Wiesbaden  AG, dem  Heizwasser  der  Mainzer  Innen-
stadt Hydrazin bei. Wie KMW-Direktor Michels dem TAGBLATT mitteilte, be-
wegt man sich, bei gesetzlich  erlaubten Werten von 0,5 bis 5, Milligramm pro Liter, in diesem Heizwerk an  der  untersten  Grenze:  im  Jahresdurchschnitt
werden 0,6 bis 0,7 Milligramm  zugefügt. Täglich wird das Heizwasser  im eige
nen  Labor  untersucht,  zusätzlich  erfolgt  drei  Mal  im Jahr  eine  Prüfung
durch  den  Technischen  Überwachungsverein  (TÜV). „Bereits  1980  ha-
ben  wir begonnen,  das  Wasser  einzufärben"
, erklärte Michels. Zur Verwen-
dung  kommt, wie auch  seit  Freitag  in Klarenthal,  der  Lebensmittel-Farb-
stoff  Uranin  (Hersteller  ist  die  Firma Merck in  Darmstadt).
Bis heute wurden in der Mainzer Innenstadt keine Leckstellen festgestellt.
Die Wärmeaustauscher in den  öffentlichen  Gebäuden  werden  ständig  kontrolliert. Und die Fernheizwerk  GmbH hat  noch  eine  zusätzliche  Sicherung zum Schutz  der Gesundheit  eingebaut:
Der Druck des Heizwassers im  System ist niedriger  als  der  Druck des  Trinkwassers. Heizwasser kann also nie austreten. Und dieser  Druckunterschied wird durch Meßgeräte ständig kontrolliert.

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