Wiesbadener Tagblatt - Ausgabe vom 30. August 1985

Zwei weitere Hochhäuser Hydrazin-verseucht

Tankwagen versorgen Klarenthals Bevölkerung

Mineralwasserkäufe in Supermärkten häufen sich / Bürger sichtlich unter Schock / Wallmann: „Wieder trinkbar!


hed. - "Achtung, Achtung - hier spricht die Polizei, benutzen Sie weder warmes noch kaltes Trinkwasser zur Nahrungszu-bereitung und zum Waschen." Mit dieser Schreckensnachricht eilten gestern Lautsprecher-Wagen durch die Klarenthaler Straßen, nachdem in zwei weiteren Hochhäusern (Geschwister-SchoU-Straße 21 und 25) Hydrazin im Trinkwasser gefunden worden war. Durch feine Haarrisse gelangte das verseuchte Wasser in das Trinkwasser; eine Färbung erwies sich in diesen Fällen als vollkommen nutzlos, wie es bereits am Vortage der Chemiker, Biologe und umweltpolitische Sprecher der CDU, Heinz Barth, vorausgesagt hatte. Der Untersuchungsdienst des Gesundheitsamtes, der ab 8 Uhr in der Geschwister-Scholl-Schule tätig geworden war, zeigte sich bis zum späten Nachmittag völlig überlastet. Obwohl gegen 16 Uhr die Analysen unterbrochen werden sollten, bildeten sich Schlangen vor den Räumen der Grundschule, in deren Turnhalle sich am Freitag mit 10,7 Milligramm pro Liter, die höchsten Werte gefunden hatten. Auch über den Rundfunk alarmierte die Stadtverwaltung die Bevölkerung. Tankwagen mit Frischwasser wurden vor die Tore der Landeshauptstadt geschickt, und mit Kanistern und Eimern versuchten viele Bürger, etwas von dem lebensnotwendigen Naß zu erhaschen. In den Supermärkten Klarenthals setzte gestern ein Run auf Mineralwasser und Flaschenwasser jeder Art ein. Eine besonders vorsichtige Anliegerin der Otto-Witte-Straße kochte gestern mittag bereits ihre Kartoffelsuppe mit Mineralwasser, wie dem TAGBLATT bekannt wurde. Bürgermeister Dr. Wilhelm Wallmann, der das TAGBLATT mittags bereits über den aktuellen Stand informierte, drückte seine Hoffnung aus, daß noch am gestrigen Abend „Entwarnung" gegeben werden könnte. Unklar bleibt allerdings, ob zu diesem Zeitpunkt bereits das Krebs-Gift Hydrazin aus dem gesamten Wasserkreislauf der 12 000-Einwohner-Siedlung verschwunden sein würde.
„Das Wiesbadener Wasser ist wieder trinkbar", gab Wallmann kurze Zeit später bekannt. Durch den Zusatz von Chlor habe das krebserregende Hydrazin im Heizwasser des Fernheizwerkes neutralisiert werden können. Bestätigt wurde gleichzeitig auch, daß die Stadt inzwischen das Institut für Arbeitsmedizin der Universität Erlangen in die Untersuchung der nach wie vor ungeklärten Frage eingeschaltet hat, ob es einen direkten Zusammenhang zwischen Hydrazin im Trinkwasser und veränderten Leber- und Nierenwerten bei inzwischen 10 Personen gibt. Das Erlanger Institut kann mit Hilfe spezieller medizinischer Geräte Blutproben auf eine direkte Belastung durch Hydrazin analysieren.
• Gestern kam auch der Gesamtpersonalrat der Wiesbdener Stadtverwaltung zu einer Sondersitzung zusammen. Thema: „Hydrazin im Klarenthalter Trinkwasser. Die Personalräte wollen jetzt vom Magistrat der Stadt wissen, ob möglicherweise städtische Mitarbeiter mitdem hochgiftigen, karzinogenen Stoff in Berührung gekommen sind. Damit, so die Argumentation der Per-sonalräte, hätte der Magistrat dann offensichtlich „die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers" verletzt.
• Ungeklärt ist immer noch, ob sich für Hydrazin andere Ersatzstoffe als Korrosionsmittel in Fernheizsystemen verwenden lassen. Deutlich wurde bisher nur, daß das Hydrazin überhaupt nicht die von der ESWE beschriebene Schutzschicht im Rohrsystem chemisch bilden kann. „Hydrazin ist doch Technik der fünfziger Jahre", so ein über die Nachlässigkeit der Stadtwerke empörter Experte gegenüber dem TAGBLATT. Ungeklärt ist bisher auch, ob es nicht technische Möglichkeiten geben könnte, um künftig eine solche Katastrophe auszuschließen (Abgesehen davon, daß in Mainz, wie berichtet, das Heizwasser einen niedrigeren Druck als das Trinkwasser hat, Anm. d.Red.).
• Klarenthals Bürger stehen sichtlich unter Schock. Immer wieder taucht die Frage auf, ob so etwas in dieser hochtechnisierten Zeit überhaupt passieren darf. Gleichzeitig wächst die Skepsis gegenüber jedweder öffentlicher Bekanntmachung der Stadtwerke.

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Großalarm

 Der Hydrazin-Skandal in der Großsiedlung Klarenthal vor den Toren der
 Stadt  weitet sich  immer  mehr  aus. Nachdem bereits am Mittwoch in ei-
nem  Hochhaus  an  der  Geschwister-SchoIl-Strai3e (Nr. 15) grünes Wasser
aus den Hähnen kam, wurde, gestern vormittag in den Hochhäusern Nr. 21
und Nr. 25 Hydrazin im Trinkwasser festgestellt.
Damit sind jetzt, neben vier Einfamilien-Häusern, einer Kindertagesstätte
und einer Grundschule, 81 Wohnungen betroffen.  Wiesbadens  amtierender
Oberbürgermeister Dr. Wilhelm Wallmann (CDU) reagierte sofort. Er schick-
te Lautsprecher-Wagen  nach Klarenthal. Allen Bürgern wurde empfohlen,
ab sofort ihren Leitungen kein Trinkwasser mehr zu entnehmen.
„Wir hoffen", so Wallmann gegenüber dem TAGBLATT, „daß wir noch
am Abend Entwarnung für die Klarenthaler geben können". Zur gleichen Zeit
wurden die Blut-Untersuchungen  an den direkt betroffenen Bürgern in den
Räumen der Geschwister-Scholl-Schule fortgesetzt Die Teams des Gesund-
heitsamtes, jeweils ein Arzt und eine Schwester, hatten alle Hände voll zu
tun.
Nach  anfänglichem  Zögern  nahm ESWE gestern eine Forderung des Ge-
sundheitsamtes auf: Man fügte dem gesamten Wassersystem Chlor bei. Der
Leiter der Abteilung Umwelt- und Ortshygiene  im Gesundheitsamt,  Boden-
schatz, hatte dies bereits am Mittwoch abend angeregt, da mit Chlor dem Heizwasser kurzfristig das gesamte Hydrazin entzogen werden kann. ESWE hatte dies zunächst abgelehnt. 

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Offene Fragen

Die Sportler des SC Klarenthal nahmen erst wieder am 22. August ihren Spielbetrieb auf. Es ist also kaum festzustellen, über eine Blut-Untersuchung, ob sie dauerhafte  Schäden davongetragen haben. Die Forderung der Grünen,  auch  bei  den erwachsenen Sportlern, wie bei den Kindern, speziel-
le Lebertests zu machen („auch wenn danach eine Säuferleber die Statistik
verfälschen  sollte", so  Frank  Brettschneider), lehnte das  Gesundheitsamt
unverständlicherweise ab. Warum eigentlich?  -
Im  arbeitsmedizinischen  Bereich findet Hydrazin, wie in der Industrie, häufig Verwendung, wie das  arbeitsmedizinische Institut in Erlangen bestätigte. In allen Bereichen unterliegen diejenigen, die mit dem Krebs-Gift umgehen, strengsten Kontrollen. Warum nicht auch die Bürger, bei denen die Ge-
fahr besteht, daß das Karzinogen in ihr Trinkwasser gelangt?
Die Stadt und die  Wohungsbaugesellschaften sind in Klarenthal die ver-
antwortlichen Bauträger, ESWE zeichnet für die Fernwärme verantwortlich.
Wer ist jetzt in Regreß zu nehmen, und  wann klagen vor allem die Eltern der
betroffenen  Kinder auf Schadensersatz, um ihren möglicherweise langfri-
stig geschädigten Kindern eine finanzielle Absicherung für die Zukunft zu
bieten?
Zuerst kritisierte CDU-Umweltsprecher  Heinz Barth das Verhalten des ESWE-Direktors Lorch als verbrecherisch, als dieser vor laufenden TV-Ka-
meras  Klarenthaler  Wasser  trank. Warum wurde diesem Manager nicht
direkt das Handwerk gelegt? 

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Farbe bekennen

Nach dem Willen der Grünen muß die SPD in der nächsten Sitzung des Umweltausschusses am  kommenden Dienstag „Farbe bekennen". Die Grü-
nen halten weiterhin ihren Antrag aufrecht,  daß  ESWE-Direktor  Heinz  Lorch, angesichts der auch von ihm verursachten Unsicherheiten und Fehlin-
formationen, seinen Hut nehmen muß.
Gestern nachmittag gaben die Grünen auch bekannt, daß man den bereits
gestellten  Antrag  erweitern  sollte,  auch personelle Konsequenzen  inner-
halb  des  ESWE-Aufsichtsrates.  „Die aktuellen Ereignisse  haben das  Faß
endgültig zum Überlaufen  gebracht", i  erklärte  der  grüne  Stadtverordnete
Frank  Brettschneider  dem  TAGBLATT. Jetzt müssen noch ganz ande-
re Köpfe rollen.
Die Bürger Klarenthals—so die Sicht der Grünen im Rathaus—seien mittler-
weile vollkommen verunsichert, und dies sei auch verständlieh. Bemerkens-
wert nannten es Vertreter der Grünen-Fraktion, daß es trotz allem bisher in
der Größsiedlung noch nicht zu einer Panik gekommen sei.
Zunächst hatten die Grünen  ihren Antrag auf Ablösung Heinz Lorchs in  der  gemeinsamen  Sitzung  der Ausschüsse für Umwelt und für Kliniken, Kur und Gesundheit  zurückgezogen,  auch unter dem massiven  Druck der SPD.
Für das rot-grüne Bündnis im Rathaus könnte dies, noch vor dem AmtsI-  antritt  Achim  Exners,  gravierende '  Auswirkungen haben, ist doch der neue Wiesbadener  Oberbürgermeister gleichzeitig Mitglied des Aufsichtsra-
tes der umstrittenen ESWE. 

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CDU: Lehrstück

Verlauf und Ergebnis der Diskussion in der Sondersitzung des Umweltaus-schusses zur Verunreinigung von Trinkwasser mit Hydrazin hätten deutlich gemacht, wie richtig es gewesen sei, diese Problematik  sofort  zu behandeln und nicht auf die Routinesitzung der Ausschüsse zu verschieben.
Wie der  Pressesprecher der CDU-Stadtverordnetenfraktion,  Dieter Schlempp, erklärte, sei die Diskussion im Ausschuß ein „Lehrstück" für Parla-
mentarismus  gewesen. Alle  Parteien hätten  anschaulich  gemacht,  welche
Bedeutung die Gesundheit der Bevölkerung in Klarenthal für die Stadtver-
ordneten hätte und daß man bereit war, eingefahrene  Wege zu verlassen,  um künftige Pannen für den Verantwortungsbereich der Stadt und ihrer Ge-
sellschaften auszuschließen.
Trotz  der  zunächst  vorgetragenen Weigerung der  ESWE-Vertreter, den
Stoff Hydrazin aus dem Wasser zu entfernen, habe die engagierte Diskussion
den  Verantwortlichen  verdeutlicht, daß man nicht bereit sei,  technische
Schwierigkeiten  als  Entschuldigung dafür anzuerkennen, daß das Hydrazin
nur schrittweise abgebaut wird.
Die am Tage nach der Sitzung eingeleiteten Maßnahmen der Stadtwerke,
durch Hinzufügung von Chlor in den Wasserkreislauf das Hydrazin zu neu-
tralisieren, sei mit Sicherheit das anschauUche  Ergebnis  der  deutlichen
Worte, die in Richtung ESWE gefallen war, gewesen.

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"Das Hydrazin muß heraus aus dem Leitungssystem"

Bürgermeister Dr. Wallmann: Mein letztes Wort/Chlorzusatz birgt neue Gefahren/Ortsbeirat mit Fragestunde

Verständlicherweise voll besetzt war gestern abend der Gemeinschaftsraum des Klarenthaler Altenwohnheimes an der Goerdelerstraße, als der Ortsbeirat im Beisein von Vertretern von ESWE, den zuständigen städtischen Ämtern und Bürgermeister Dr. Wilhelm Wallmann den Hydrazin-Skandal diskutierte. Bekannt wurde dabei, daß  allein am Donnerstag 400 weitere Personen medizinisch untersucht wurden; zu Hilfe kamen den vollkommen überlasteten Mitarbeitern des Gesundheitsamtes die Wissenschaftler des Erlanger Instituts für Arbeitsmedizin, die an Ort und Stelle erste Hydrazin-Tests anstellten. Die Liste der Fernheizwerke in Wiesbaden mußte mittlerweile um zwei erweitert  
werden, deren Heizwassersysteme ebenfalls mit Uranin eingefärbt werden sollen. Eins dieser Heizwerke versorgt das Behördenzentrum auf dem Schiersteiner Berg. Unklar blieb während der Sitzung, ob der von ESWE zugesetzte Chlorgehalt keinerlei gesundheitliche Auswirkungen auf die Bürger haben könnte. Bemängelt wurde von Experten außerdem, daß das Chlor gleichzeitig die Färbung des Heizwassers aufhebt und so die Kontrolle möglicher weiterer Lecks unmöglich machen könnte.
•  ESWE-Verteter kündigten an, daß  am heutigen Tage das Warmwasser wieder in den 560 vorhandenen Wärmetauschern angestellt werde und für die  Klarenthaler Bürger wieder unbedenklich nutzbar sei.  
Bürgermeister Dr. Wallmann  gab bekannt, daß  die Klarenthaler in den nächsten Tagen, teilweise sei dies schon geschehen, durch ein Rundschreiben des Gesundheitsamtes über weitere Untersuchungsmöglichkeiten informiert werden würden. Er machte auch den Standpunkt des Magistrats nochmals deutlich, daß „finanzielle Erwägungen bei einer solchen Sache keine Rolle spielen dürfen." Daher werde man auf unbürokratische Weise 250 000 Mark für den Ersatz von Wärmetauschern und Rohren zur Verfügung stellen. In den nächsten Magistratssitzungen werde auch das Thema „Hydrazin" immer als Punkt 1 auf der Tagesordnung auftauchen. Man wolle damit eine ständige Information über den aktuellen Stand der Lage sicherstellen. „Ich hoffe, daß  wir damit die richtigen Maßnahmen getroffen haben".
•  Bei den bisher festgestellten erhöhten Leber- und Nierenwerten handele es sich nicht um eine akute Vergiftung, teilte die Leiterin des Gesundheitsamtes, Dr. Ingeburg John, mit. Dem Amt selbst stelle sich jetzt die Frage, ob man langfristig chronische Vergiftungen feststellen könnte. Ausdrücklich wurde in diesem Zusammenhang von einem Bürger darauf verwiesen,  daß die Klärung dieser Frage eine bedeutende Rolle dafür spielen werde, ob die Betroffenen Prozesse gegen die Verursacher anstrengen werden.

 

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